Heute ist es soweit. 2022 neigt sich unwiderruflich dem Ende zu. Für mich persönlich ist es nicht nur der letzte Tag des Jahres, sondern auch jener Tag, bevor ich meinen Espressokonsum auf Null herunterfahre. All jene, denen mein Gemütszustand Sorgen bereitet, kann ich beruhigend hinzufügen, dass meine Abstinenz nur ein paar Tage andauert. Der Jahreswechsel ist für mich eine Zeit der Neukalibrierung und der Neuausrichtung. Und da gehört der Koffeinverzicht für mich dazu.
Auch an den Finanzmärkten sehnen wir uns nach einer Neuausrichtung. Ab nächster Woche wird die Performance auf Null gestellt. Nach dem herausfordernden und historisch herausragenden Jahr wird es aber auch Zeit. 2022 hat wahrlich alles von uns abverlangt. Nahezu alle Asset-Klassen weisen eine deutlich negative Wertentwicklung auf. Und genau das macht 2022 zu einem außergewöhnlichen Jahr. In der Vergangenheit hat mir die Diversifikation – also die Verteilung auf mehrere Vermögensklassen – wertvolle Dienste erwiesen. Nicht so 2022!
Auch vermeintlich sichere Wertpapiere, wie z.B. österreichische oder deutsche Staatsanleihen mussten zum Teil herbe Verluste hinnehmen. Je länger die Laufzeit, desto größer war der Verlust. Eine österreichische Staatsanleihe mit einer knapp 100-jährigen Laufzeit musste 2022 Kursverluste von 55% hinnehmen. Der Kurs einer 10-jährigen Staatsanleihe ist immerhin um 22% zurückgegangen. Ich bin seit gut 25 Jahren in der Finanzbranche tätig, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.
Die Phase der Null- oder Negativzinsen ist definitiv vorbei. Im Jahr 2014 sind die Anleihenrenditen in einigen Ländern das erste Mal in den negativen Bereich geschlittert. Im Jahr 2020 haben Anleihen im Gegenwert von über 18 Billionen US-Dollar eine negative Rendite und damit eine negative Ertragserwartung ausgewiesen. Als Investor war damit klar, das man am Ende des Tages weniger herausbekommt als man eingezahlt hat. Laut Lehrbuch ein unvorstellbares Szenario. Aber auch ein Indiz dafür, dass in diesen Tagen selbst Unvorstellbares Realität werden kann. All jene, die das mit Skepsis betrachten, kann ich beruhigen. Die Zeit der Negativ-Renditen scheint endgültig vorbei. Nach den Zinsanstiegen in den letzten Monaten ist das Volumen der Anleihen mit einer negativen Rendite auf defacto Null gesunken.
Für Investoren, die bereits seit längerem in Anleihen investiert sind, ist das natürlich ein schwacher Trost. Wenn wir einen Blick in die Zukunft wagen, haben sich die Rahmenbedingungen im Vergleich zum Vorjahr doch deutlich verbessert. Immerhin gibt es jetzt schon positive Renditen, die aber immer noch deutlich unter der aktuellen Inflationsrate liegen. Damit hat der Investor real Geld verloren, aber zumindest sind sie positiv!
Im Gegensatz zu den Anleihen war der Kursrückgang für die Aktienmärkte 2022 durchaus im Rahmen. Ein klassischer Bärenmarkt beginnt ja schließlich erst bei einem Rückgang von zumindest 25%. Auffallend aber war, dass einstige Highflyer zu Verlierern geworden sind. Gerade der Technologiesektor ist 2022 gewaltig unter die Räder gekommen.
Als Sinnbild dafür möchte ich Tesla heranziehen. Zu Beginn des Jahres war das Unternehmen an der Börse noch mit 1,2 Billionen US-Dollar bewertet. Ein Jahr danach liegt der Börsenwert bei „nur“ mehr 355 Milliarden Dollar. Das entspricht immerhin einem satten Minus von gerundeten 70%! Im Gegensatz dazu konnten bereits totgesagte Energie-Unternehmen eine beeindruckende Performance aufweisen und damit andere Marktsektoren deutlich übertrumpfen. Es muss aber auch festgehalten werden, dass langfristige Investoren trotz der Kurs-Rallye im letzten Jahr bei längerer Betrachtungsdauer kein Geld verdient haben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Was erwartet uns 2023? Das ist wohl die Frage aller Fragen. Bevor ich Ihnen meine subjektive Einschätzung darlege, möchte ich der Form halber festhalten, dass niemand die Zukunft seriös vorhersagen kann. Insofern bitte ich Sie, meine Ausführungen als Status-Quo Einschätzung zu betrachten.
Ich persönlich gehe davon aus, dass wir im kommenden Jahr eine abnehmende Wirtschaftsdynamik erleben werden. Der Konjunkturmotor stottert und weitere Zinsanhebungen der großen Notenbanken werden diesen Trend noch verschärfen. In Laufe des Jahres wird sich die Lage auf der Inflationsfront aber deutlich entschärfen und damit für positive Impulse sorgen.
Aktienseitig sind die Bewertungen im historischen Vergleich im „Normal-Bereich“ – also weder als extrem teuer noch als extrem billig zu bewerten. Nachdem bereits viel Negatives in den Kursen eingepreist ist und ich davon ausgehe, dass sich ein Silberstreif am Horizont abzeichnet, sehe ich 2023 durchaus optimistisch entgegen. Ich gehe nicht davon aus, dass wir ein fulminantes Kursfeuerwerk erleben werden, aber eine deutlich positive Performance würde mich nicht überraschen. Und auch für Anleiheninvestoren blicke ich optimistisch in das Jahr 2023. Immerhin haben wir schon positive Renditen.
Und auch für mich persönlich ist es angerichtet. Spätestens Mitte Jänner ist meine Kaffee-Abstinenz wieder Geschichte und ich werde wieder genussvoll meiner Espresso-Leidenschaft frönen. Und eines können Sie mir glauben. Im Gegensatz zu den anderen Prognosen wird diese mit 100%iger Sicherheit aufgehen. Insofern bleibt mir nur noch Ihnen einen entspannten Jahresausklang und alles Gute für 2023 zu wünschen. Prosit Neujahr!