Lange Zeit galt Russland als schlafender Riese und billiger Rohstofflieferant, dessen Neureiche in der ganzen Welt Geld für Luxus ausgeben. Vor allem die Verflechtungen Österreichs mit Russland sind groß. So war 2001 Putins Besuch in St. Anton am Arlberg eine Sensation und 2018 lud der ÖSV Putin zur Nordischen WM in Seefeld ein.
Gefährliche Abhängigkeiten
Wohlhabende russische Gäste bereicherten Jahr für Jahr exklusive Fremdenverkehrsorte in Österreich, wo 80 % des importierten Erdgases aus Russland bezogen werden, aber die Erdgaslager derzeit nur zu einem Fünftel gefüllt sind. Die gesamte EU deckt laut EU-Kommission 38,1 % ihres Erdgasbedarfs und 25,7 % des Ölbedarfs aus Russland. Laut den von statista unter Berufung auf die European Union Agency for the Cooperation of Energy Regulators für 2020 veröffentlichten Daten beziehen Nordmazedonien, Bosnien und Herzegowina und Moldawien sogar 100 % ihres Erdgases aus Russland. Finnland, Lettland und Bulgarien importieren jeweils 94; 93 bzw. 77 %. Hingegen Frankreich und die Niederlande sind nur zu 24 bzw. 11 % von russischem Erdgas abhängig.
Die ganze Versorgung hängt nun seit dem Kriegsausbruch am 24. Februar am seidenen Faden. Gefahren drohen seitens internationaler Energieboykotts gegen Russland aber auch von einer möglichen kriegsbedingten Unterbrechung der Gasversorgung her, denn wichtige Transportpipelines gehen durch die Ukraine. Zwar muss bei Lieferstopp in Österreich noch niemand daheim erfrieren, da die Haushalte aktuell ca. 2 bis 3 TWh pro Monat benötigen. Mechanismen der Energielenkung würden aber vorsehen, dass große industrielle Gasverbraucher vom Netz genommen werden. Das wäre ein Absicherungsmechanismus, der jedoch zu Produktionsausfällen führen würde. Das ist der Preis dafür. Ebenfalls nicht kostenlos ist folgender Lichtblick: Zahlreiche LNG-Schiffe aus den USA sind derzeit nach Europa unterwegs. Kurzfristig werden immer mehr Flüssiggas-Schiffe von Asien nach Europa umgeleitet, doch das kostet entsprechend und die Zeche zahlen die Endverbraucher. Schließlich stieg der Erdgaspreis (UK) binnen 6 Monaten um 117 %. Aber es gibt noch weitere Abhängigkeiten:
In der Ukraine überschatten die kriegerischen Auseinandersetzungen die Frühjahresaussaat von Weizen. Viele Bauern sind im Krieg und es mangelt an Arbeitskräften in der Landwirtschaft. Dabei kommen ca. 30 % der weltweiten Weizen-Exporte aus Russland und der Ukraine und laut International Grain Council (IGC) werden die Reserven der wichtigen Weizen-Exporteure EU, Russland, USA, Kanada, Ukraine, Argentinien, Australien und Kasachstan in der aktuellen Erntesaison 2021/22 auf ein Neun-Jahres-Tief von 57 Mio. Tonnen fallen. Rechnet man russische und ukrainische Lagerbestände heraus, reichen die Reserven nur für weniger als drei Wochen. Der Weizenpreis stieg auf Jahresbasis bis 8. April 2022 bereits ca. 70 %. Dies destabilisiert die politische Lage in ärmeren Ländern in denen Nahrungsmittelinflation, insbesondere die Brotpreise, eine wichtige Rolle spielen. Ägypten mit über 100 Millionen Einwohnern importiert einen großen Teil des Weizens aus Russland und der Ukraine, gleiches gilt für Tunesien, während die Türkei 2020 ca. 65 % ihres Weizens aus Russland bezog.
Und bereits vor dem Krieg explodierten die Preise für Düngemittel, die durch den Krieg nun auch noch „Mangelware“ geworden sind, denn: Russland ist weltweit einer der wichtigsten Lieferanten von Düngemitteln und verwandten Rohstoffen. Russland und Weißrussland liefern ca. 40 % der weltweiten Kali-Exporte, zu deren Hauptabnehmer China, Brasilien und Indien gehören. Hinzukommt, dass 2021 der Anteil Russlands an allen globalen Metallausführen gemessen am Exportwert bei rund 19 % liegt. Rusal und Norilsk Nickel sind Weltmarktführer bei Aluminium und Nickel – in der Industrie dringend gefragter Metalle. Bei Palladium, das für Auto- und Industriekatalysatoren benötigt wird, hatte Russland 2018 sogar einen globalen Förderanteil von 43 %. Hinzu kommt noch für die Autoindustrie, dass quer durch Europa die Bänder stillstehen, da die ukrainischen Lieferungen von Kabelbäumen ausbleiben. Die Produktion von Kabelbäumen ist nämlich stark in der Ukraine konzentriert.
Lieferketten und bilaterale Handelsabkommen im ESG-Check
Hätte die Krise von heute vermieden werden können? Die Antwort darauf ist ein klares Ja. Zwar können Corona-Maßnahmen alle Unternehmen treffen, doch Abhängigkeiten von Standorten, wie Russland und der Ukraine – völlig unabhängig vom heutigen Kriegsszenario – hätten bereits im Vorfeld minimiert werden können. Ein einfacher ESG (Umwelt, Soziales , Governance) – Check hätte bereits die Alarmglocken erklingen lassen.
Es geht nämlich um folgende Faktoren, die vor einer Lieferanten- und Niederlassungsentscheidung jedes Unternehmen berücksichtigen sollte:
Makrofaktoren und Umfeldanalyse:
Gab es aus diesem Land schon früher größere Lieferausfälle?
Gewerkschaftsstreiks können die Produktion lahmlegen. Doch während des Kommunismus gab es in Russland keine größeren Arbeitskämpfe und unter Putin löste die Regierung derartige Versammlungen immer wieder schnell auf.
Proteste im Zusammenhang mit einer umstrittenen Wahl und der Verhaftung eines Oppositionspolitikers keimten aber ab Jänner 2018 verstärkt auf. Ansonsten galten vor allem die Erdgaslieferungen aus Russland als sicher zumal diese über fix installierte Leitungen erfolgten. Auch in der Lieferung von Öl und anderer Rohstoffe galt Russland grundsätzlich als zuverlässiger Partner. Bereits während des Kalten Kriegs galten die Russen in punkto Erfüllung bilateraler Abkommen als zuverlässig. Auch auf der Ebene von Großunternehmen funktionierten die Lieferketten. Hingegen kleinere Marktteilnehmer fielen vor allem in den 90er-Jahren häufig mafiosen Strukturen zum Opfer.
Wie steht es um die Rechtssicherheit von Eigentum?
In punkto Russland eine Lektion zum Umgang mit Privateigentum war der Fall Yukos, deren Ölförderung einst 1,7 Millionen Barrel pro Tag bzw. 15 % der russischen Produktion entsprach. Schon die Privatisierung nach dem Zerfall der Sowjetunion sorgte für kontroverse Diskussionen. Der Erwerb erfolgte im Rahmen einer geschlossenen Versteigerung welche von der durch Michail Chordorkowski mitgegründeten Bank Menatep organisiert wurde, die dann selbst als einziger Bieter auftrat und später die Anteile an eine Gruppe auch internationaler Investoren weitergab, wobei Chordorkowski Hauptanteilseigner wurde. Yukos entwickelte sich als stark wachsendes Unternehmen zum Börsenstar. Am Höhepunkt wurde das Vermögen von Chordorkowski auf rund 15 Mrd. Dollar geschätzt. Doch dieser geriet am 19. Februar 2003 vor laufender Fernsehkamera mit Putin über die Korruptionsfrage heftig aneinander. Am 25. Oktober 2003 wurde Chordorkowski bei einem Zwischenstopp mit seinem Privatjet in Nowosibirsk festgenommen und in Moskau inhaftiert. Wegen angeblicher Unterschlagung und Steuerhinterziehung erging ein Haftbefehl. Im Zuge eines im Westen umstrittenen Verfahren erfolgte eine langjährige Haftstrafe für Chordorkowski. Yukos wurden für die Jahre 2001 bis 2003 Steuernachzahlungen in Milliardenhöhe in Rechnung gestellt. Am 19. Dezember 2004 wurde dann Juganskneftegas, auf die 60 % der gesamten Ölproduktion des Yukos-Konzerns fielen, für 7 Mrd. Euro (weit unter ihrem Wert) versteigert, um die Steuerschuld zu begleichen. Zuschlag bekam die zuvor gegründete Briefkastenfirma Baikal Finans, die am 22. Dezember die Anteile an Rosneft, einer staatsnahen Ölproduktionsfirma, weitergab. Nach der Zerschlagung von Yukos gehörte Rosneft zu den drei größten russischen Ölproduzenten. Kritische Beobachter sahen darin faktisch die Enteignung eines für die Regierung unangenehmen Oligarchen.
Im kleineren Stil gab es immer wieder „Erzählungen“ über unfreundliche Firmen- und Immobilienübernahmen durch Umschreibung im Firmen- und Grundbuch durch stärkere „Organisationen“.
Wie stark ist Korruption im öffentlichen Dienst verbreitet?
Staatliche Willkür und wenig Rechtssicherheit gehen häufig einher mit einem hohen Ausmaß an Korruption im öffentlichen Dienst. Transparency International konzipierte zur Messung der wahrgenommenen Korruption im öffentlichen Dienst den Corruption Perception Index (CPI) auf einer Skala von 0 (hochkorrupt) bis 100 (sehr sauber). Im CPI 2021 gelten als die am wenigsten korrupten Länder mit einem Wert von jeweils 88 Dänemark, Finnland und Neuseeland, gefolgt von Norwegen, Singapur und Schweden mit jeweils 85 Punkten, Schweiz (84), Niederlande (82), Luxemburg (81) und Deutschland (80). Am schlechtesten schneidet der Südsudan mit 11 Punkten ab gefolgt von Syrien und Somalia (je 13 Punkte), Venezuela (13), Yemen, Nord Korea und Afghanistan (je 16 Punkte). Sehr weit verbreitet ist demnach auch die Korruption in Russland und der Ukraine, die jeweils nur 29 bzw. 32 Punkte aufweisen verglichen mit 74 in Österreich. In Russland und der Ukraine gibt es also zahlreiche rechtsfreien Spielräume in denen das Recht des Stärkeren vorherrschen könnte, denn Korruption ist eines: Rechtsbeugung, worunter die Effizienz einer Volkswirtschaft leidet und wodurch auch staatliche und unternehmerische Ausfallsrisiken steigen. Dass Korruption und erhöhte Ausfallsrisiken bei Staatsanleihen zusammenhängen zeigt bereits eine Studie aus dem Jahr 2011, die 170 Länder in den vergangenen 30 Jahren betrachtete. Es war die Untersuchung von Professor Friedrich Thiessen und Johnannes Weigl, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Chemnitz. Die Publikation mit dem Titel: „Irland, Griechenland und Co. – Der Korruptionsindex als Indikator für die Rückzahlungswahrscheinlichkeit von Staatsschulden“ zeigt eine erstaunliche Korrelation zwischen dem CPI, Korruptionsindex von Transparency International und der Umschuldungswahrscheinlichkeit (zuverlässige Daten des Pariser Clubs) von 0,92. (1 wäre vollständige Korrelation). Fazit: Korruption führt zu einer Verschwendung staatlicher Ressourcen und mindert dadurch die Effizienz von Volkswirtschaften.
Wie steht es um Pressefreiheit und Achtung der Menschenrechte?
Der Yukos-Prozess und 2006 auch die mysteriöse Vergiftung des Agenten Alexander Litvinenko waren schon erste Warnsignale. Das Verhältnis der russischen Regierung zu Journalisten – vor allem aus dem Ausland – war schon immer angespannt. Im Zuge des Kriegs in der Ukraine, der in Russland nicht als Krieg bezeichnet werden darf (nur Sondereinsatz), wurde die Pressefreiheit enorm eingeschränkt. Fernsehberichten zufolge, sind zahlreiche Medien verboten worden. Aber bereits vor dem Krieg war die Pressefreiheit in Russland stark eingeschränkt. Kann man dies auch systematisch messen? Ja, es gibt die Rangliste der Pressefreiheit für fast alle Staaten der Welt auf der Grundlage von Fragebögen der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“: Hier geht es u.a. auch um Übergriffe gegen Journalisten . Der globale Index der Pressefreiheit ist umso besser je niedriger der Wert ist. Von 180 Ländern mit 6,72 Punkten führend in punkto Pressefreiheit ist im Jahr 2021 Norwegen, gefolgt von Finnland (6,99 Punkte), Schweden (7,24), Dänemark (8,57), Costa Rica (8,76), den Niederlanden (9,67) und Jamaica (9,96). Österreich rangiert mit 16,34 Punkten auf Platz 17. Am meisten eingeschränkt (Rang 180 mit 81,45 Punkten) ist die Pressefreiheit in Eritrea, gefolgt von Nordkorea, Turkmenistan und China. Russland rangiert mit 48,71 Punkten auf Platz 150 und die Ukraine mit 32,96 Punkten auf Platz 97 (von beiden noch das „geringere Übel“).
Kriegsgefahren?
Hier gibt es einen klaren Maßstab, der bei unternehmerischen Standort- und Lieferantenentscheidungen wohl kaum berücksichtigt wird, da bis dato immer die Kosten im Vordergrund standen. Doch wer billig kauft, muss unter Umständen einen hohen Preis dafür zahlen, wenn dann kriegsbedingt die „billigen“ Komponenten nicht mehr geliefert werden können. Wer dieses Risiko in Entscheidungen miteinfließen lassen möchte, wirft einen Blick auf den Global Peace Index (GPI, Weltfriendsindex), der von einem internationalen Gremium bestehend aus Friedensexperten, Friedensinstituten, Expertenkommissionen und dem Zentrum für Frieden und Konfliktstudien der Universität Sydney in Kooperation mit der Zeitschrift „The Economist“ erstellt wird. Erstmals herausgegeben wurde dieser Index im Mai 2007. Er unterteilt 163 Länder in fünf Hauptkategorien, wobei basierend auf dem Schulnotensystem die Kategorie 1 für die friedlichsten Regionen bzw. 5 für die größten Unruheherde gilt. Der GPI umfasst 23 Kriterien für Abwesenheit von Gewalt oder Angst vor Gewalt und unterteilt diese dabei in die drei Bereiche, nämlich Laufende inländische und internationale Konflikte; Soziale/Gesellschaftliche Sicherheit und Stabilität; und Militarisierung. Wirft man unter diesen Aspekten einen Blick auf Russland, so rangierte das Land bereits im Jahr 2007 auf Platz 118. Bis 2021 rutschte es auf Rang 154 ab. Die Ukraine war indessen 2007 noch auf Rang 80, verschlechterte sich aber bis 2021 auf Rang 142. Schlusslichter des Rankings sind indessen die „üblichen Verdächtigen“ Afghanistan, Jemen, Syrien, Südsudan, Irak und Somalia. Am sichersten ist es indessen auf Island, in Neuseeland, Dänemark, Portugal, Slowenien, Österreich, der Schweiz und Irland.
Spezifische Analyse der Lieferantenunternehmen:
Diese erfordert genaue Recherchen vor Ort. Hilfreich sein können die Aussenhandelsstellen der WKO, Privatdedektive und auf ESG-Consulting spezialisierte Unternehmen wenn es vor allem um folgende Fragestellungen zu potenziellen Lieferanten geht:
- Wie vertrauenswürdig sind die dahinterstehenden wirtschaftlichen Eigentümer?
- Sorgte das Unternehmen schon für Skandale? Wenn ja, welche?
- Sind ESG-Ratings zum Unternehmen erhältlich? Wenn ja, wie fallen diese aus?